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Einführung von Richard Horn 
zur Ausstellung
Museum am Widumhof, Urbach am 12.11.2006

 "GEKLONT – GESPIEGELT - GEKREBST"

Nun erwarten Sie eine Einführung in das Werk, Erklärungen, was der Künstler oder besser gesagt die Künstler wollen, welche Ziele sie verfolgen, welche Botschaft dahinter steht, warum das Kunst ist, abstrakte Kunst sogar, wo doch die Exponate so gegenständlich sind? Sie wollen wissen, was es mit diesen Klängen auf sich hat?

Ich kann Sie beruhigen: Die Antworten darauf habe ich auch nicht. Also gehen wir wieder nach Hause ... Oder bleiben wir hier, weil wir von unserer eigenen Neugierde angetrieben hergekommen sind? Hier in diese surreale Boutique. In eine Ausstellung, die als Verkaufsraum mit Alltagsgegenständen verwirrt. Tatsächlich: Es hat viel mit Werbung und Verkauf zu tun.

Um Ihnen das zu erklären, möchte ich Ihnen Ferdinand de Saussure und Karl Bühler vorstellen:
Ferdinand de Saussure lebte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und erklärt Sprache als ein
System von Zeichen, welches fähig ist, Ideen auszudrücken. Daraus geht eine Wissenschaft hervor, die sich mit dem Umgang mit Zeichen in der Gesellschaft beschäftigt. Man bezeichnet sie als Semiologie, abgeleitet vom griechischen Wort semeion („das Zeichen").

Saussure geht davon aus, dass nur menschliche Sender semiologische Vorgänge verstehen und produzieren können, indem der Sender eine Idee als Nachricht an einen menschlichen Empfänger schickt. Karl Bühler entwickelte darüber hinaus 1934 das Organon-Modell als Kommunikationsmodell.

Schon Platon bezeichnet die Sprache in seinem "Kratylos" als ein Organon, ein Werkzeug, mit Hilfe dessen eine Person der anderen etwas über die Dinge und Sachverhalte mitteilt. Bühler unterscheidet zwischen Sender und Empfänger und betrachtet die Sprache deshalb von vornherein als Kommunikationsmodell. In seinem Organonmodell kommt er zu der Feststellung, dass die Leistung des sprachlichen Zeichens dreifach ist:

1. Das Zeichen ist Symbol für Gegenstände und Sachverhalte. Es geht also um die Darstellungsfunktion und um die Beziehung zwischen Zeichen und Objekt. Hierbei geht es um die reine Information, die der Sender mitteilen will (z.B. in Sachtexten, Anleitungen, etc. oder hier in dieser Ausstellung sachlich einfach nur die Gegenstände)

2. Das Zeichen sagt auch etwas über den Sender aus. Bühler spricht von der Ausdrucksfunktion, in der es um die Beziehung zwischen Zeichen und Sender geht. Das Zeichen ist ein Symptom für den Sprecher (eine Kundgabe), er will (unter anderem) ein Gefühl oder eine Meinung vermitteln.

3. Das Zeichen richtet sich aber auch an den Empfänger, es geht demnach um die Appellfunktion, wo das Zeichen als Signal (Auslösung) wirkt. Es soll den Empfänger zu etwas auffordern. Diese Funktion haben beispielsweise auch Warnrufe im Tierreich. Bei einer Kommunikationssituation sind normalerweise immer alle drei Funktionen vorhanden, doch wird immer nur eine von ihnen als dominant angesehen. So steht die Appellfunktion bei Werbung und Verkauf im Vordergrund.

Zusammengefasst gesagt:  Wir finden in dieser Ausstellung Zeichen und Symbole; zum Beispiel  X oder Y -Symbole auf  Verkaufständen, aber auch Muster, die wir noch näher untersuchen werden. Wir "ertappen" die Künstler dabei, dass Sie die Form eines Verkaufsraums gewählt haben, um an uns zu appellieren. Ein Appell verpackt als Werbung und Verkaufssituation.

Aber sie tun nur so; sie wollen uns nicht Bilder, Krawatten und Anzüge verkaufen, wir hören keine Kaufhausmusik, sondern...?

Ein Künstler hat eine Botschaft. Die drückt er in einer eigenen Sprache aus, benützt eigene Zeichen, chiffriert und codiert.

Schauen wir uns um. Uns fallen die Ornamente und Muster auf den Exponaten auf, es sind regelmäßige Strukturen. Diese Strukturen bestehen aus Fotofragmenten. Das einzelne Fragment zeigt Gliedmaßen, Beine und Arme, Teile weiblicher Körper. Diese Fragmente wurden vervielfältigt, aneinandergereit, fortentwickelt nach einem Schema, einem Algorithmus, gleichsam mechanisch. Wir können leicht erkennen, dass diese Muster ins Unendliche streben, kein Anfang und kein Ende haben.

Der Mystiker und Esoteriker in uns hat die Antwort schon parat: Weibliche Körper, Fruchtbarkeit, Fortpflanzung, macht euch die Erde untertan, klonen, Gentechnik.  Jetzt haben wir’s. Alles erklärt. Gut.

Doch hier lohnt es sich noch ein bisschen genauer hinschauen, dieser Sprache gründlich zuzuhören. Diese Ornamente sind tatsächlich nach einer Kopiervorschrift entstanden. Sie sind auch am Computer entstanden, also ist es digitale Kunst?

Ist es und ist es nicht; denn einerseits ist Digitalkunst die Bezeichnung für künstlerisches Schaffen, das Kunstobjekte mithilfe digitaler Verfahren erzeugt. Computer sind hierbei die entscheidenden Arbeitsgeräte. Deshalb wird oft gleichbedeutend auch von Computerkunst gesprochen.

Andererseits: Eine relativ weit verbreitete Unterform der digitalen Kunst: Fraktalkunst beschäftigt sich mit der Erschaffung von digitalen Bildern, die im wesentlichen aus einem oder mehreren Fraktalen bestehen. Als eigenständige Kunstform ist die Fraktalkunst selbst unter den Künstlern nicht unumstritten, da einige argumentieren, man bilde lediglich Teile einer mathematisch geometrischen Form als Kunstwerk ab, was nicht die eigenständige Schöpfungshöhe erreicht.

Und hier? Tatsächlich hat man hier dem Computer Zügel angelegt. Die Vervielfältigung der Fotofragmente folgte nicht mathematischen Regeln, sondern musikalischen Kompositionsvorschriften. Wiederholen, hier auch klonen genannt, spiegeln, krebsen sind Kompositionsvorschriften, wie sie als Musterbeispiel Johann Sebastian Bach bei seinen Fugen verwendete.Ein musikalisches Thema wird wiederholt, gespiegelt, das heißt das Vertauschen der Tonhöhenbewegungsrichtung einer Passage oder gar im Krebsgang gespielt, was die notengetreue, jedoch rückläufige Darbietung eines Themas bedeutet.

Bach hat diese Kompositionsvorschriften auf Musik-Fragmente angewandt. Heinz H.R. Decker und Gerty Kunder haben diese Kompositionsvorschriften auf Fotofragmente angewandt. Wir erhalten eine seltsame Verfremdung dieser menschlichen Gliedmassen, sie werden zu abstrakten Mustern. Das Ergebnis, eine Art schablonenhaftes Schnittmuster, kennt keine Beziehung mehr zu seinem Ursprung, dem individuellem Abbild, dem ursprünglichen Foto eines einzelnen Menschen.

Mit Hilfe digitaler Technik und musikalischen Kompositionsvorschriften wird also ein Abbild eines Menschen zum Abstraktum. Vervielfältigbar, bindungslos zum Ursprung.

Diese Muster befinden sich auf Kleidungsstücken, Taschen, Krawatten, Kissen, Tapete und Bildern an der Wand. Es sind Massenartikel, Utensilien des täglichen Gebrauchs.

Welch' eine Symbolik! Der Mensch wird über seine Anonymisierung, über seine Abstraktion durch Klonen, Spiegeln, Krebsen dem Menschen zum Gebrauch angeboten, zur Verfügung gestellt.

Deshalb zeigt Daniela Maria Decker zwei charakteristische Film-Archetypen mit Kleid à la Audrey Hepburn und Anzug nach Humphrey Bogart.

Und was hat es mit dieser gewöhnungsbedürftigen Musik auf sich? Otto Kränzler hat diese Klänge nicht einfach so komponiert. Vereinfacht gesagt hat er die Bildmuster als Partitur aufgefasst und mit Hilfe elektronischer Software in Klänge umgesetzt. Das Exponat  „Auszug / Element 001"  stellt eine von vier jeweils durch unterschiedliche bildverarbeitende Methoden komponierten Stimmen als Bildobjekt dar. Dazu hört man die musikalische Umsetzung dieser „Partitur" - ergänzt durch drei weitere, wie in einer Fuge allmählich hinzutretende Stimmen. Sie hören also das, was Sie sehen, abstrahierte Menschen.

Zum Schluss möchte ich doch noch Gerhard Uhlenbruck zitieren:

"Gott schuf den Menschen aus Erde. Dann sagte er, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Seitdem macht der Mensch sich den Menschen untertan."