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Photobilder: geklont - gespiegelt - gekrebst

Ausstellung im Turbinenraum der Alten Lederfabrik, Schorndorf, Oktober 2004

"geklont - gespiegelt - gekrebst
die dienstbereitschaft der biomasse"

Audio: Otto Kränzler
Einführung und Text: Thomas Milz
ELEMENTARTEILCHEN

Der erste Blick auf H.R.Deckers Photobilder nimmt zunächst Muster, Ornamentales, verschlungene Gitter, wiederkehrende Strukturen wahr. Beim Nähertreten wird sichtbar, dass die Elemente, aus denen das Bild zusammengesetzt ist, aus Körperfragmenten bestehen. Es sind weibliche Körperteile, zum Teil nackt und durch sonst aufreizende Dessous erotisch aufgeladen. Ein sich pornografisch einrichten wollendes Starren wird indes abgewiesen. Einladende Öffnungen verschmelzen durch unendliche Verdoppelungen zu abweisenden Monstrositäten. Der handelsübliche Blick der Frau, ihr zur Ware gewordenes Gesicht, das suggeriert: "ich meine nur dich!" - fehlt völlig. Pornografie ohne Verheißung von Lust ist keine, oder bringt deren leeres Versprechen kritisch zur Anschauung. Und trotzdem, eine seltsame Faszination geht aus von diesen Bildern, ein Sog wie von tantrischen Mandalas, gestört vom bösen Witz katastrophal missglückter Stellungsanweisungen aus dem Kamasutra. Körper gehen Verbindungen ein, denen das Glücksversprechen einer irgendwie gelungenen Vereinigung jedoch vollkommen abgeht. Und dennoch: Wer sich auf die prekären Nahtstellen einlässt, gerät in einen benommen machenden Taumel. War es das nicht? - Der Wunsch nach der Auflösung der Körpergrenzen in der Ekstase der gegenseitigen und grenzenlosen Penetrationen? Die Aufgabe von Selbst und Ich im Ornament der Masse oder - die Variante des aktuell hedonischen Individualismus - in der Serien-Verstöpselung der Geschlechter im Swinger-Club der Peripherie einer x-beliebigen Gemeinde.

Von diesen Veduten der Subjektlosigkeit angestiftet, mag sich die Assoziation grafischer Darstellungen mikro-biochemischer Strukturen einstellen:




Erinnert dieses Photobild Deckers nicht, wenigstens entfernt, an die Wiedergabe eines Abschnitts einer DNS-Struktur? Wovon sprechen diese filigranen, mühevoll erstellten Muster?
Der Traum von der freien Assoziation der Liebenden, zuletzt kollektiv eingeklagt in den 60er - Jahren, scheint an sich selbst irre geworden zu sein. Die weitgehende Sexualisierung der Gesellschaft war, wie sich nun sehen lässt, Produkt einer imperialen Ausdehnung der Warenwirtschaft. Nicht die Befriedigung sexueller Bedürfnisse in Anerkennung der Geschlechterdifferenz, sondern schneller Konsum der Ware Sex, war und ist deren Triebkraft. Vom schuldbeladenen Komplizentum mit den scheinbaren Erleichterungen bei der am Ende vereinzelnd machenden Triebabfuhr, spricht Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" von 1998. Er ist ein zwischen Zynismus und Melancholie schwankender Abgesang auf die Hoffnung einer gelingenden Balance zwischen den Geschlechtern. Indem Houellebecq die Frage der Sexualität zentriert auf die der Verantwortung gegenüber der (eigenen und kollektiven) Nachkommenschaft, kommt er zu einem kalten Befund. Zumindest in den westlichen, hedonistisch geprägten Zivilisationen ist die Bereitschaft groß, sich dieser Verantwortung zu entledigen. An den Techniken zur Züchtung der Gattung wird in den Laboren der Welt mit Hochdruck gearbeitet. Die körperliche Begegnung von Mann und Frau ist hierfür nicht mehr erforderlich. Houellebecqs Roman, zu dessen Fiktion es gehört, dass er als Rückblick aus dem Jahr 2050 geschrieben ist, spricht von der erstaunlichen Zustimmung zu dieser Entwicklung:

"Es existieren noch einige Menschen, der alten Rasse, insbesondere in den Regionen, die lange dem Einfluss traditioneller religiöser Doktrinen ausgesetzt waren. Ihre Fortpflanzungsquote verringert sich jedoch von Jahr zu Jahr, und ihr Aussterben scheint heute unabwendbar zu sein. Entgegen allen pessimistischen Vorraussagen vollzieht sich dieses Aussterben bis auf vereinzelte gewalttätige Handlungen... sehr friedlich. Es ist durchaus überraschend mitanzusehen, mit welcher Ruhe, welcher Resignation und vielleicht sogar insgeheimer Erleichterung die Menschen ihrem eigenen Verschwinden zugestimmt haben."

(Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

Mann und Frau, die sich zum Material, zur verwertbaren Biomasse für den ersehnten Neustart , Re-Launch der Gattung gemacht haben. Die Enttäuschung über das Politische hat Platz gemacht für die Wiederaufladung alter Hoffnungen - ohne Trauerarbeit über die Beteiligung an deren Misslingen - im Feld des Genetischen!
Am Tag vor der Ausstellungseröffnung ging folgende Meldung durch die Presse: "Erstes deutsches Retortenbaby mit getestetem Erbgut geboren". (Stuttgarter Nachrichten vom 30.9.2004). Der Bericht beginnt mit dem Satz: "Erstmals ist in Deutschland ein Retortenbaby zur Welt gekommen, dessen Erbgut vor Einpflanzung in den Mutterleib getestet worden war." Wir machen einen kleinen Geschichtsschritt zurück in


FRANKENSTEINS LABOR

Schon in Mary Shelleys "Frankenstein" von 1818, hat

"eine technische Prozedur...die körperliche Vereinigung von Mann und Frau überflüssig gemacht, wissenschaftliches Ingenium und handwerkliche Kunstfertigkeit sind an die Stelle von Liebe und Zuneigung getreten. Darin liegt Frankensteins Frevel an der Natur: er hat die Frau aus dem Schöpfungsakt verbannt, dem Geschöpf damit die Mutter vorenthalten..."

(Norbert Kohl)

Darf man vor diesem Hintergrund die Bildphantasien Deckers als ironisch-verzweifelte Rekonstruktionsversuche, die Wiedereintragung des Weiblichen lesen? Wobei die von seinen Versuchen ausgehende Irritation das ist, dass Zusammensetzen und Zerstückeln ineinander fallen, das Heile und das Ganze jenseits der Suchbewegung liegt?
Der Bildinhalt bleibt ambivalent.

"Die Zerstückelung ist (...) nicht nur ein wichtiger Topos in ganz unterschiedlichen künstlerischen Genres, sondern er spielt auch in der Entwicklung der Medizin eine erhebliche Rolle, indem die Zergliederung menschlicher Leichen zum Erkenntnisparadigma wurde. Die Aufspaltung des Körpers in seine kleinsten Teile gibt heute Aufschluss über körperliche Prozesse und leitet zudem einen Erkenntnisgewinn für die anthropologische Frage, was der Mensch sei. Mit dem Topos der Zerstückelung korrespondiert derjenige des erst zu konstruierenden Körpers qua Bild. Demnach ist die 'ursprüngliche' Körpererfahrung die eines zerstückelten Körpers, der erst durch die Erfahrung der Bildhaftigkeit des Körpers - genauer durch den Anblick des eigenen Spiegelbildes - zu einer einheitlichen Körperwahrnehmung führt, die immer auf dem Spiel steht."

(Stefanie Wenner)



In einer eigens für die Schorndorfer Ausstellung eingerichteten, auf die morbid - technoide Atmosphäre des Turbinenraumes der alten Lederfabrik reagierenden Installation, führte Decker den alten Demiurgentraum, den Künstler und Mediziner gemeinsam haben, in kritisch - identifizierender Geste zusammen. In hohen Reagenzgläsern, gleichsam einer Reihe Orgelpfeifen ähnlich, auf/in denen die Neuen Weltenschöpfer zu spielen belieben, stecken seine Photorollen, bösartig plakativ um das Embryonenmotiv erweitert. Auf einem Hocker ordentlich abgelegt, ist ein Laboranten-/Medizinerkittel zu sehen. Ein Kärtchen mit dem handschriftlichen Hinweis "bin gleich wieder da", thematisiert die Lücke zwischen Forscherwillen und Verantwortung. Decker fordert den Betrachter auf, niemand anderen, sondern sich selbst in diesem "schwarzen Loch" zu suchen. Zwischen den Reagenzgläsern postierte er mehrere enigmatische, hohe schwarze Behälter. Für welchen Zweck mögen sie taugen? In ihren aufklappbaren Deckeln sind kleine Spiegel angebracht. Wer hineinschaut, sieht nicht gut aus.
Wer das Laborinterieur des Ausstellungsortes betritt wird mit einer aufgeladenen ¨berdeterminiertheit dieses historischen Raumes konfrontiert. Decker ergreift hier die Gelegenheit zur riskanten Annäherung an die Rauschverführung des Gesamtkunstwerkes. Die ist ohne Musik und Klang nicht zu haben.


DIE RAUNENDE MASCHINE

Die Konzeption der gebündelten und vereinigenden Kraft von Architektur, Bild und Musik in Wagners Idee und Praxis des Gesamtkunstwerkes, war eine Reaktion auf die Enttäuschung über das Scheitern eines politischen Ganzheitsphantasmas nach der 1848er - Revolution. Dem Pathos der musikalischen Zwangsvereinigung setzt der Komponist Otto Kränzler, Deckers langjähriger Freund und Partner (Fusion Performance Group), die analytische Dissonanz und das ironische Melodram entgegen. Die geschichtserfahrene Fusion von Hollywood und IRCAM Paris, die einen musikalischen Besinnungsraum ergibt. Bei der Vernissage der Ausstellung gab Kränzler ein nachhaltig wirkendes Audio-Konzert, bei dem er mit seinen avancierten und reflektierten musikalischen Mitteln, ohne die Bilder zu illustrieren, das Publikum derselben Frage wie Deckers Photobilder es tun aussetzte: Was spricht? Weißbehandschuht klopfte er mit verschiedenen Instrumenten das Potenzrohr, die alles beherrschende Turbine des Ausstellungsraumes ab. Zwischen zärtlichem Entlocken und aggressivem Herauspressen gab die Maschine Töne von sich, die sich der Artikuliertheit einer Sprache näherten. Von Lust und Qual der Artefakte schien auf einmal die Rede. Eine luziferische Rührung stellte sich ein: haben unsere Seelen in den Maschinen Zuflucht genommen?
In der von Kränzler gefertigten Klanginstallation zur Ausstellung, die in der Klangbearbeitung ähnliche Verfahren des "Spiegelns" und "Krebsens" anwendet, wie Decker in der Bearbeitung seiner Photos, betritt der Betrachter einen audiovisuellen Raum, der sozusagen cinemascope die Technikträume der Erlösung, wie sie besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zelebriert wurden, als elektronisch glucksenden und scharrenden kultischen Religionsersatz denunziert. Kränzler und Decker sind insofern Artisten des Abschieds. Mit ihrer Destruktion unlebendig machender Gewohnheiten, wird die starr-machende Angst vor dem ungesehenen, unerhörten bearbeitbar.


DAS VERSCHWINDEN DES MENSCHEN AUS PRODUKTION UND REPRODUKTION

"Die Postrevolution tritt an die Stelle der Revolution, die auf die Veränderung der Gesellschaft zielte. Durch die Moderne hindurch hielt das Pathos der Arbeit die Geschichte in Atem. (...) Die Technologie eines die Körper (...) informierenden Codes setzt die Todesreligion der Arbeit als Lebensreligion fort, die nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Körper verändert."

(Gerburg Treusch-Dieter)

Die erzählerische Vision Houellebecqs vom Abschied des Menschen aus der Sphäre der Reproduktion erweitert Gerburg Treusch-Dieter in ihrer soziologischen Studie um die des zunehmenden Überflüssigwerdens des Menschen auch in der Sphäre der Produktion. Dabei zieht Treusch-Dieter eine historische Linie aus, in der "Auschwitz" nicht als die singuläre, sich nicht wiederholende Katastrophe erscheint, sondern als Auftakt einer technokratischen Verwertungshaltung, in der sich der Mensch selbst zur Disposition stellt:

"Nach Hannah Arendt wird durch die industrielle Todesproduktion, für die Auschwitz steht, weit über die Vernichtung der KZ-Inhaftierten hinaus die 'Überflüssigkeit des Menschen' demonstriert, die heute unter der Voraussetzung, dass es nicht mehr um den Begriff der Zucht oder um den der Rasse geht, sondern um den des genetischen Codes, mit Blick auf das 'Wachstum' weitergeführt wird. Denn die 'Überflüssigkeit des Menschen' ist heute weder bezogen auf den Fortschritt noch bezogen auf die Fortpflanzung oder den genetischen Code rückgängig zu machen."

(Gerburg Treusch-Dieter)

H.R. Deckers Arbeiten bewegen sich in diesem gesellschaftlichen Kontext, ohne indes in einer Illustration der darauf reagierenden Literatur oder Theorie aufzugehen. Er arbeitet mit Bildern, deren ambivalenter Schub- und Verführungskraft er den Betrachter aussetzt. Fasziniert ertappt sich dieser als ins Problem zutiefst verstrickt. Bei aller Kälte hat dies mit einer verlockenden Schönheit seiner Montagen zu tun. Indem sie im geschichtlichen Abstand auch an die psychedelischen Projektionen der 60er-Jahre erinnern, tragen sie in die heutige Diskussion auch das stigmatisierte Thema des Rausches wieder ein. Sichtbar und damit bearbeitbar wird die Komplizität einer romantischen Auflösungssehnsucht, die kein Stil- oder Epochen- sondern ein sich durchziehendes Gattungsmerkmal ist.


DER ABTREIBENDE MANN AUF DER EISSCHOLLE

Die Kampfzone, in die sich Decker zielsicher und provozierend begibt, ist die der ungelösten Geschlechterspannung.
Ich würde vorschlagen ihre Kraft darin zu diskutieren, dass sie den männlichen Blick in ein notwendiges Spiel des Verrats verwickeln.
Verrat im Sinne von Preisgeben und komödiantisch zu verabschieden!
Seine geköpften Fruchtbarkeitsgöttinnen sprechen von beidem: Dem nicht zu stillenden Begehren und der auf diese Abhängigkeit sich immer wieder einstellenden Aggression. Decker erzählt die Geschichte der Medusa selbstkritisch weiter: Was nützt es ihr als Perseus den Kopf abzuschlagen, wenn mich danach doch immer wieder ihre Augen/Öffnungen verfolgen? Man darf sich von der Reizwäsche von Deckers Models/Mannequins nicht täuschen lassen: Sein Thema ist die (männliche) Leere des Bildhintergrundes. Von dort aus werden die wichtigen Fragen gestellt. Sie hätten mit dem Abschied vom sich als weltschöpfend empfindenden Mann zu tun.





Sowohl Houellebecq als auch Mary Shelley empfehlen diesen Abschied am Schluss ihrer Romane.

"Aber bald werde ich sterben!" schrie er dann in düsterer, feierlicher Begeisterung. "Ich werde sterben und das nicht länger empfinden müssen, was ich jetzt fühle! Bald wird dies brennende Elend ausgelöscht sein. Triumphierend werde ich meinen Scheiterhaufen besteigen und inmitten der sengenden Flammen frohlocken! Wenn die Feuersbrunst erloschen ist, wird der Wind meine Asche ins Meer wehen. Mein Geist wird in Frieden ruhen; aber sollte er weiterhin denken können, so werden es andere Gedanken sein. Leben Sie wohl!"
Mit diesen Worten sprang er aus dem Kajütenfenster auf die Eisscholle hinab, die noch dicht neben dem Schiff trieb. Bald hatten ihn die Wellen davongetragen, und er verlor sich in der Dunkelheit und Ferne."

(Mary Shelley)

Diese heiß-kalte Apotheose findet in Houellebecqs Romanschluss ein etwas nüchternes aber ebenso ironisches Echo:

"Trotz alledem bleibt Djerzinskis Verschwinden ein Rätsel, und die Tatsache, dass seine Leiche nie gefunden worden ist, sollte einer hartnäckigen Legende den Vorschub leisten, derzufolge er nach Asien und zwar in den Tibet gereist sei, um seine Arbeiten mit gewissen Lehren der buddhistischen Tradition zu konfrontieren. Diese Hypothese wird heutzutage einhellig verworfen. Zum einen hat man keinen Hinweis für eine Flugreise mit Irland als Ausgangspunkt entdecken können; zum anderen hat man die Zeichnungen auf den letzten Seiten seines Notizbuchs , die man eine Zeitlang als Mandalas interpretiert hatte, schließlich als eine Kombination von keltischen Symbolen identifizieren können, die jenen ähneln, die im Book of Kells zu finden sind. (...) Wir glauben heute, dass Michel Djerzinski ins Meer gegangen ist."

(Michel Houellebecq)





So verschwindet der männliche Blick auf Deckers Photobildern in der haltlosen Tiefe. Haltbarer Grund für ein neues Gespräch zwischen den Geschlechtern?